Ein Ritual für Pachamama

Die Nacht ist bereits pechschwarz als Dominga beginnt, mit ihren bloßen Händen im Innenhof ein tiefes Loch auszuheben. Über mehrere Tage hat die ganze Familie mitgeholfen. Getränke, Tabak und Coca wurden eingekauft und eine Reihe von Speisen zubereitet. Heute ist es schließlich so weit. Am späten Abend – das Thermometer ist mittlerweile auf -15 Grad gesunken – beginnt die Zeremonie. Unter freiem Himmel knien wir jeweils zu zweit vor dem Loch, gemeinsam nur von einem dünnen Laken bedeckt. Nach strengen Regeln werden Speisen, Getränke, Coca und Zigaretten der Pachamama geopfert um ihr für die Tiere, die Familie und die Gesundheit zu danken. Für jeden Verstoß wird getrunken. Auch im Hof der Tochter und des Sohnes wird das Ritual wiederholt.

Als der Alkoholpegel nach mehreren Runden deutlich gestiegen ist, steigt auch die Stimmung. Meine Füße spüre ich nicht mehr, doch die Kälte kann einem nichts anhaben. Stattdessen tanzen wir ausgelassen zu einer copla im Kreis. Als die Herzen schließlich vom Alkohol geöffnet sind, steht die Familie im Halbkreis um die Opferstelle herum. Einer nach dem anderen drückt mit ernsten Worten seine tiefe Dankbarkeit gegenüber der Pachamama und gegenüber der Familie aus. „Ich danke von ganzem Herzen der Pachamama. Dafür, dass du uns zu Essen gibst. Dafür, dass meine Familie gesund ist. Dafür, dass wir Alles haben“. Clemente greift mich fest an der Schulter und schaut mir tief in die Augen. Eine Träne läuft ihm über die Wange. „Darum geht es, verstehst du?“

Local lithium worlds. Pachamama ritual in the Argentine Puna.
Pachamama ritual in the Argentine Puna. Photo by Felix Dorn

Evos elektrische Spritzfahrt

„Mit meinem Herzen voller Freude und Stolz haben wir heute das erste in Bolivien gebaute Auto vorgestellt, das mit Energie aus Lithiumbatterien aus La Palca funktioniert […] Wir verbinden Investitionen mit Bildung, um unsere Industrialisierung in Richtung einer #FuturoSeguro (Sicheren Zukunft) voranzutreiben.“

Am 1. Oktober 2019, mitten im politischen Wahlkampf, gab es für Evo Morales und die bolivianische Nation eine Überraschung. Anlässlich der Eröffnung eines Instituts für Lithiumtechnologie in Potosí überreichten Ingenieure des Werks La Palca dem damaligen Präsidenten ein selbst gebautes Elektroauto. Morales probierte es gleich aus, war sichtlich begeistert und winkte der Menge zu.

Unmittelbar danach veröffentlichte Morales den obigen Tweet zusammen mit einem Foto, auf dem ein Ingenieur aus La Palca zu sehen ist. Auf dem Foto scheint es, als könne er nicht so richtig fassen, was gerade passiert. Während Morales strahlend, mit Konfetti und Blumen bedeckt, das Auto fährt und nach vorne zeigt, blickt der Ingenieur etwas verdutzt auf die Szene. Aus irgendeinem Grund war es dieser Ingenieur, der – mehr als alles andere – meine Aufmerksamkeit erregte. Ist dies das Gesicht von jemandem, der gespannt darauf ist, ob der Prototyp, an dem er mitgearbeitet hat, die Feuerprobe bestehen wird? Oder ist er damit beschäftigt, zu begreifen, wie der Prototyp plötzlich zu einem nationalen Spektakel geworden ist?

Für mich scheint diese Szene einige der Spannungen innerhalb des bolivianischen Projekts der Lithium-Industrialisierung einzufangen: Morales in voller politischer Kampagne, die volle Fahrt voraus für die bolivianische Dekolonisierung durch Industrialisierung signalisiert. Und der Ingenieur, der in das Spektakel hineingezogen wird und nicht so recht weiß, was er davon halten soll.

Das globale Batterie-Wettrüsten

„Wir befinden uns inmitten eines globalen Batterie-Wettrüstens.“ Mit diesen Worten eröffnete Simon Moores seine Stellungnahme anlässlich der Anhörung des US-Senats zum Ausblick für die Energie- und Rohstoffmärkte vom 5. Februar 2019.

Die Idee war ihm während der Flugreise zur Anhörung gekommen, inspiriert von einer Rede, die Eminem einmal bei der Verleihung eines prestigeträchtigen Preises gehalten hatte: Seine Aussage sollte kurz und aussagekräftig sein – eine einfache Liste bedeutender Fakten, an die sich die Leute erinnern würden.

„Wie viel von der Batterie-Lieferkette für Elektrofahrzeuge kontrollieren die USA?“, fragte er. Die Antwort war einfach, aber bedeutsam: „Für Nickel ist es Null. Für Kobalt ist es Null. Für Graphit ist es Null. Und für Lithium ist es ein Prozent. Das ist doch was.“

Benchmark Mineral Intelligence MD Simon Moores – outlook for energy & minerals markets

Simon wusste, wovon er sprach. Er ist Gründer und Geschäftsführer von Benchmark Mineral Intelligence, einem der wichtigsten Marktforschungsunternehmen für die Lithium-Ionen-Batterieindustrie. Sein Geschäft ist das Sammeln und der Verkauf von Daten über die gesamte Lieferkette, von den Batteriemetallminen bis zu den Märkten für Elektrofahrzeuge.

Mit seiner Aussage wollte er die US-Politiker für eine Tatsache sensibilisieren, die er nur zu gut kannte, die sie aber anscheinend übersehen hatten: Der Umstieg auf Elektrofahrzeuge erfordert eine völlig neue Industrie und riesige Mengen an Rohstoffen. Beide Sektoren werden derzeit von China kontrolliert.

Seine Worte von 2019 waren für ein US-Publikum gedacht, aber sie wären auch im heutigen Europa brandaktuell. Im September 2020 rief die Europäische Union ihre Rohstoffallianz ins Leben, alarmiert durch ihre Abhängigkeit von anderen Ländern bei der Versorgung ihrer Volkswirtschaften mit kritischen Rohstoffen.

It all seems that the geopolitics of the energy transition, with their scramble for raw materials, are quickly gaining traction.

Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Geopolitik der Energiewende und der mit ihr verbundene Kampf um Rohstoffe schnell an Fahrt gewinnt.

Verbundene Welten

Warum erzählen wir diese drei Geschichten zusammen? Was hat ein intimes Ritual im argentinischen Hochland mit bolivianischen Wahlkämpfen und globaler Rohstoffpolitik zu tun? In welchem Verhältnis stehen ein bolivianischer Ingenieur, ein britischer Marktexperte und ein kleinbäuerlicher Aktivist in Argentinien?

Man mag es erahnt haben: Lithium ist das verbindende Element, das es uns ermöglicht, diese Geschichten zusammen zu erzählen – auf ihre ganz eigene Weise sind es alles Geschichten über Lithium. Aber was passiert, wenn wir dies tun? Welche Welten entstehen durch diese Lithiumverbindungen? Dies ist die Frage, die dieses Projekt antreibt. Lithiumwelten ist eine Einladung, Lithium anders zu denken, indem wir seine Verbindungen in einem sich stetig weiterentwickelnden kollektiven Prozess erforschen.

Lithium ist heutzutage vor allem als wichtiger Bestandteil von wiederaufladbaren Lithium-Ionen-Batterien bekannt, die alles vom Mobiltelefon bis hin zu Elektrofahrrädern, Autos und Bussen mit Energie versorgen. Da sie erneuerbare Energie speichern, werden Lithium-Ionen-Batterien immer wichtiger in einer Welt, in der Millionen von Menschen versuchen, ihren industrielle Lebensstandard in einer Zukunft ohne fossiler Brennstoffe fortzusetzen. Die Klimakrise zwingt uns, schnell auf erneuerbare Energieformen umzusteigen, um den Planeten zu erhalten. Dazu werden große Mengen an Metallen wie Lithium benötigt.

Deshalb wird Lithium auch oft das „Metall der Zukunft“ genannt. Es ist wichtig für eine lebenswerte Zukunft, weltweit. Aber es verändert die Welt ungleichmäßig.

An Orten wie Europa oder den USA, wo Industrien von importierten Rohstoffen abhängen, ist Lithium ein Grund zur Sorge, weil es bald knapp werden könnte. Denken wir an Simon und die Dringlichkeit, die er sorgfältig in seine Aussage gearbeitet hat, um die US-Politiker auf ihre geopolitische Abhängigkeit von China aufmerksam zu machen.

Dort wo es gefördert wird, ist Lithium eine Quelle tiefer Ambivalenz, denn es ruft sowohl Träume einer besseren Zukunft als auch Ängste vor andauernder Ausbeutung hervorruft. Denken wir an Evo und seine politische Botschaft von einem besseren Leben für sein verarmtes Volk dank Industrie und Technologie. Denken wir an Clemente, der Bergbauprojekte in seiner Gegend ablehnt, und damit auch die industrielle Lebensweise und der Rohstoffabbau, von dem sie abhängt. Was ist im Leben denn wirklich wichtig?

Ausgehend von dieser Ambivalenz möchte dieses Projekt verschiedene Lithiumwelten erforschen: Welten zwischen und auch jenseits von Rohstoffabbau und Verbrauch, globalem Süden und Norden, Technologie und Ökologie. Es macht sich die Fähigkeit von Lithium zu eigen, zwischen verschiedenen und doch verwandten Welten zu reisen und dabei unerwartete Verbindungen zu schaffen.

Lithiumwelten können nur in einem sorgfältig geschaffenen kollektiven Prozess erforscht werden. Um weiten Verbindungen sinnvoll zu folgen, bedarf es einer steten Erdung in konkreten Orten und Angelegenheiten. Alle, die sich mit unseren Prinzipien identifizieren können, laden wir ein, sich an dieser Erkundung zu beteiligen, auf ihre ganz eigene Weise und von wo auch immer sie stehen mögen. Gemeinsam können wir langsames und sorgfältiges Zusammendenken als Alternative zu vorherrschenden Narrativen anbieten und so frisches Denken und Handeln bei allen Beteiligten anregen.

Lithiumwelten bietet Raum für Inhalte jenseits der Hektik von täglichen News, Inhalte die für ein diverses Publikum an unterschiedlichen Orten gemacht sind. Geschichten über Lithiumwelten können nur von Bedeutung sein, wenn sie diejenigen auch erreichen, die diese Welten bewohnen. Wir tun unser Bestes, um sie einem breiten und vielfältigen Publikum zugänglich zu machen, indem wir unsere Inhalte zwischen Orten, Sprachen und Fachgebieten übersetzen. Wir freuen uns, euch unter uns zu wissen.